von Anke Marenbach
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27. August 2019
Die Formel „Yoga machen = Stress reduzieren und entspannen“ kennt wohl jeder und die ist auch richtig, allerdings ist sie doch ziemlich verkürzt und impliziert in dieser Form eher etwas Unrichtiges: „Wenn ich ein paar Asanas mache bin ich nicht mehr so gestresst.“ Das ist so wie eine richtig gelöste Matheaufgabe in einer Klausur, bei der aber leider der Lösungsweg nicht aufgezeigt wurde – null Punkte. Es entspricht aber ja durchaus unserem gewohnheitsmäßigen und bequemen Wunschdenken, eine EINFACHE Lösung für unser Stressproblem haben zu wollen; am liebsten sogar in Form einer Anti-Stress-Pille, die wir einmal täglich zu uns nehmen. Für mehr haben wir ja auch gar keine Zeit, es stehen bereits die nächsten Informationen an, die verarbeitet werden müssen; Effizienz ist eben alles. Die Wirkungsweise von Yoga ist ein bisschen komplexer. Ob man die nun verstanden hat oder nicht - also ob man den „Lösungsweg“ aufzeigen kann oder nicht – ist glücklicherweise vollkommen irrelevant für die Wirkung selbst: die allermeisten Menschen, die Yoga praktizieren, berichten, dass „ihnen Yoga guttut“ und dass sie sich danach „entspannt“ oder auch „erfrischt“ oder ähnliches fühlen. Was haben sie also konkret getan während so einer „Yogastunde“? In der Regel – und damit meine ich so ganz typische Yogastunden in unseren westlichen Kulturkreisen – haben sie ihren Körper bewegt, also „Asanas“ ausgeführt. Das ist gleich in mehrerer Hinsicht ziemlich gut für uns: wir haben immer mehr „Informationsarbeiter“, die ihren Arbeitstag meist sitzend verbringen. Dafür ist unser Körper aber nicht gemacht: er dankt es uns mit Rückenschmerzen, verkürzter und verkümmerter Muskulatur, hängenden Schultern, verspanntem Nacken und Sehnenscheidenentzündungen vom vielen Mausklicken. Die Bewegung unseres Körpers – mal sanft, mal fordernder – wirkt unserer oft ungesunden körperlichen Arbeitshaltung positiv entgegen. Das findet unser Gehirn übrigens auch und spendiert uns dabei gleich einen Glückshormoncocktail – als Dankeschön sozusagen und Motivationsanreiz, das bloß beizubehalten! Gleichzeitig wirkt der Cocktail wie ein Gegengift: er neutralisiert nämlich die vielen Stresshormone in unserem Körper, die uns langfristig bei konstant hohem Pegel krankmachen. Das Ausführen von Asanas im Yoga kann man auf verschiedene Arten machen. Man kann diese Bewegungen oder Bewegungsabfolgen einfach „machen“ mit dem Ziel, sie „gemacht“ zu haben. Also zum Beispiel stehende Vorbeuge: Kopf runter, Schultern nach vorn, Oberkörper nach vorn beugen und dann möglichst an die Füße kommen mit den Händen (oder zumindest mal in die Nähe). Wenn man so praktiziert hat man sich zwar bewegt. Sehr viel effizienter und nachhaltiger ist es jedoch, wenn man den Weg in die stehende Vorbeuge zum Ziel erklärt: wenn man seinen Geist fokussiert auf die kleinen notwendigen Bewegungsschritte: das Kippen des Beckens nach vorn, das Runden des Rückens, das Sinkenlassen der Arme, das Loslassen der Nacken- und Schultermuskulatur. Wenn man die eigene Wahrnehmung auf die Körperempfindungen richtet, die sich möglicherweise einstellen, wenn man sich in die stehende Vorbeuge absenkt: gibt es da ein Ziehen im unteren Rücken? Fühlen sich die Rückseiten der Oberschenkel irgendwie gestreckt an? Fließt das Blut merklich in den Kopf hinein? Der Autopilot unseres Gehirns, den wir heute so oft eingestellt haben, wird ausgeschaltet und wir wechseln auf manuellen Betrieb: das nennt man übrigens „Achtsamkeit“ oder auch „Mindfulness“. Man führt und bewegt den eigenen Körper sehr aufmerksam und nimmt genau wahr, was wahrnehmbar ist beim Ausführen dieser Bewegung. Das kann übrigens auch NICHTS sein – und das ist überhaupt nicht abwegig oder schlimm, sondern genau so wertvoll im Sinne der Achtsamkeit wie jede andere Empfindung. In der Bewegung fokussieren wir unseren Geist: wir drosseln das Tempo unseres Gehirns, dass oftmals zuvor im Hochleistungstakt mit Informationskategorisierung beschäftigt war. Wir richten unsere Aufmerksamkeit allein auf die Bewegung und die Empfindungen unseres Körpers. - Empfindungen? Ja genau, wir üben auch zu „fühlen“, also uns selbst zu fühlen. In unserem „normalen“, leistungsorientierten und schnelllebigen Alltag haben wir für so etwas meist keine Zeit mehr. Wenn es sich nicht um ein sehr starkes, außergewöhnliches Gefühl handelt, also sozusagen ein Prio-1-Gefühl, dass vielleicht lebensrettend für uns sein kann (wie z.B. Angst in einer brenzligen Situation), lässt unser Autopilot Gefühle gar nicht mehr zu, sie werden quasi als „nicht essentiell“ oder, wie man im informationstechnologischen Zeitalter sagt, „nice-to-have“ abgetan. Manchmal stören Gefühle sogar, weil sie uns im Alltag Aufmerksamkeit und abverlangen, und wir üben uns regelrecht darin, sie zu ignorieren: indem wir uns ablenken, und die Möglichkeiten dazu sind ja nun einmal mannigfaltig im digitalen Zeitalter vorhanden. Im Ergebnis fühlen irgendwann tatsächlich NICHTS mehr; wir fühlen uns irgendwie LEER – obwohl gleichzeitig unser Kopf total VOLL ist. Neben körperlichen Übungen sind Atemübungen, sogenanntes „Pranayama“, ein wesentlicher Bestandteil von Yogastunden. Warum sind nun aber Atemübungen gut um Stress abzubauen? Ohne Atmen können wir nicht leben. Dass wir Ein- und Ausatmen, und das rund 20.000mal am Tag, müssen wir glücklicherweise nicht willentlich steuern, sondern das übernimmt unser vegetatives Nervensystem. Das vegetative Nervensystem besteht unter anderem aus einem Teil, der sich „Sympaticus“ nennt, und einem weiteren namens „Parasympaticus“. Während der Sympaticus, auch Stress- oder Spannungsnerv genannt, dafür zuständig ist, unseren gesamten Körper in Aktionsbereitschaft zu versetzen, ist der Parasympaticus für den regenerativen Ausgleich zuständig und wird daher auch Entspannungsnerv genannt. Du ahnst bereits, was ich sagen möchte…: genau, der Sympaticus ist heutzutage ganz oft übermäßig ausgeprägt, während der Parasympaticus irgendwie verkümmert. Wir schenken unserem Körper zu wenig Regenerationszeit. Wenn unser Sympaticus aktiv ist, atmen wir in der Regel schnell und flach, weil der Körper schnell mit Sauerstoff versorgt werden muss. Das funktioniert auch – aber eben nicht als Dauerzustand. Sobald wir beginnen, langsam und tief zu atmen und den Atem bis tief in den Bauch hineinfließen lassen setzt die Aktivierung des Parasympaticus ein: wir werden ruhiger und entspannter und können uns regenerieren, also neue Kräfte sammeln. Nicht von ungefähr kommt die Redewendung „erstmal tief durchatmen…“ – dafür muss man noch nicht einmal Yoga praktizieren. In dem Begriff „Pranayama“ steckt „prana“, der altindische Begriff für Energie. Atem ist unsere primäre Energie, die wir aufnehmen. Im Yoga „arbeitet“ man mit dem Atem, in dem man ihn entweder nur beobachtet (ohne ihn zu verändern), oder in dem man ihn bewusst „lenkt“. In letzterem Falle werden Atemübungen ausgeführt, die in der Regel den Atem verlangsamen und vertiefen: man führt die 4 Atemphasen Einatmen, Atem verhalten in der Fülle, Ausatmen und Atem verhalten in der Leere mit unterschiedlichen Intensitäten aus. Noch stärker als beim Ausführen körperlicher Übungen ist man beim Praktizieren von Atemübungen gezwungen, diese mit großer Achtsamkeit auszuführen: würde man das nicht tun, nimmt uns unser vegetatives Nervensystem einfach wieder das Zepter aus der Hand und atmet eben weiter so wie immer. Das notwendige achtsame Atmen während der Durchführung von Atemübungen verordnet unserem sequentiell arbeitenden Gehirn eine Auszeit – also genau das, was notwendig ist, um das gefühlte Stresslevel zu senken! Wenn man regelmäßig übt, den eigenen Atem zu vertiefen, hat man sich dies irgendwann „angewöhnt“: das bedeutet letztlich, dass man den Parasympaticus dauerhaft gestärkt hat. Manchmal beobachtet man beim Praktizieren von Yoga den Atem einfach nur. Dabei wird – in der Regel in sitzender oder liegender Position, aber durchaus auch im Stehen und bei der Durchführung körperlicher Übungen – die voll Aufmerksamkeit auf den Atem gerichtet, ohne diesen jedoch zu verändern. Man nimmt lediglich wahr, wie man ein- und ausatmet: kann man den Atem vielleicht spüren, zum Beispiel als sanften Hauch an der Oberlippe? Kann man wahrnehmen, wie der Atem den Schulter-, Brust und Bauchbereich ausfüllt? Wie sich die Bauchdecke nach vorne wölbt? Gibt es vielleicht ein Geräusch beim Atmen? Genau wie beim Ausführen von Asanas nimmt man den gesamten Atemvorgang achtsam und aufmerksam wahr und bündelt somit die Kapazitäten eigenen Gehirns auf genau diesen Vorgang. Andere Dinge, mit denen wir unser Gehirn gerne beschäftigen, treten somit automatisch in den Hintergrund und sind für den Moment nicht mehr wichtig: wir lernen wieder, uns zu konzentrieren. Weil wir unseren Atem quasi immer „dabeihaben“, ist der Atem ein häufig gewähltes Meditationsobjekt: Meditation ist ein ebenso wesentlicher Bestandteil des Yoga. Wenn man meditiert, versenkt man sich vollständig in Stille: damit ist vor allem die innere Stille gemeint. Diese erreichen wir durch Konzentration auf EINE Sache, häufig eben auf den eigenen Atem. Das klingt deutlich leichter als es tatsächlich ist: unser Geist tut sich schwer damit, bei nur einer Sache zu bleiben, am liebsten hangelt er sich von einem Gedanken zum nächsten weiter und wird deswegen auch als „monkey mind“ bezeichnet: wie ein Affe, der sich von Ast zu Ast, von Baum zu Baum schwingt. Klar, schließlich haben wir ihn auch lange genug in diese Richtung „trainiert“: hier noch mal ne E-Mail checken, ach da kommt eine neue Whatsapp rein, und oh, wer hat da was bei Facebook gepostet, das erinnert mich an das Foto was noch bei Instagram rein soll, aber das mach ich gleich denn jetzt ruft gerade jemand an… So kann es also passieren, dass wir bereits nach 10 Sekunden Meditation – und damit Konzentration auf unseren Atem – schon wieder mit unseren Gedanken abschweifen. Das ist nicht schlimm und keinesfalls außergewöhnlich. Mit zunehmender Übung gelingt es uns immer besser, dies erstens überhaupt zu bemerken, und zweitens diese Gedanken ziehen zu lassen und mit unserer Aufmerksamkeit wieder zurück zu unserem Konzentrationsobjekt, der Atmung, zu kommen. Selbst sehr meditationserfahrenen Menschen passiert es immer wieder, dass Gedanken abschweifen: aber seltener und es fällt ihnen schneller auf. Meditation ist für unser Gehirn, für unseren Geist eine echte Wellnesskur: nur eine Sache machen, ganz ausführlich und ganz vertieft, ohne das tausend nächste Sachen schon wieder Schlange stehen und auf Verarbeitung warten – herrlich! Es gibt mittlerweile eine ganze Menge wissenschaftlicher Studien, die belegen, welche positiven Auswirkungen Meditation auf unser Gehirn hat. Regelmäßige Meditationseinheiten von 45 Minuten pro Tag über einen Zeitraum von 8 Wochen bewirken bereits, dass sich unsere „grauen Zellen“ im Hippocampus erholen: der ist oft durch einen zu hohen Cortisolspiegel – eines der Stresshormone – geschädigt, was sich zum Beispiel nachteilig auf unsere Gedächtnisleistung auswirkt. Ein vergrößerter Mandelkern (Amygdala) in unserem Kopf kann sich wieder zurückbilden und damit unser subjektives Stressempfinden senken. Wir lernen wieder, uns besser zu konzentrieren und auch zu regulieren: das empfindliche Zusammenspiel unseres gesamten Körpersystems, was durch einen Cocktail aus Stresshormonen durcheinander gebracht – oder sagen wir „beeinträchtigt“ – worden ist normalisiert sich langsam wieder. „Yoga machen = Stress reduzieren und entspannen“: ja, das ist absolut richtig, sofern man es regelmäßig tut und mit voller Aufmerksamkeit. Nur dann kann sich unser unter Dauerleistungsdruck stehendes Gehirn in Informationszeitalter auch wirklich regenerieren, und auch körperliche Leiden können aufgehalten und vielleicht sogar umgekehrt werden. Viele, sehr viele Menschen haben das bereits ausprobiert und können von den positiven Wirkungen von Yoga aus eigenen Erfahrungen berichten, und – der Informationstechnologie sei Dank – sie haben dies hinaus in die Welt getragen: in die vielen Yogazeitschriften, Yogablogs, Yogaconferences, Gesundheitsratgeber und so weiter und so fort. Yoga ist populär geworden, weil es das Informationszeitalter ermöglicht hat, und weil es gleichzeitig eine Antwort ist auf die besonderen „Leiden“, die durch das Informationszeitalter erst entstanden sind; es ist sozusagen ein Gegengewicht zu unserer heutigen Zeit. Und deswegen ist Yoga auch kein Trend, der wieder weggeht.