Ich weiß nicht mehr so genau, wann und wo ich das erste Mal etwas von Yoga gehört habe. Vermutlich so in den 80ern oder Anfang der 90er. Aber ich kann mich noch erinnern an das Bild, was dazu in meinem Kopf entstanden ist: total bunt und schräg gekleidete Menschen, mit wallenden langen Haaren im ganzen Farbspektrum, die im Schneidersitz mit den Händen auf den Knien um eine Buddhafigur herumsitzen und ekstatisch die ganze Zeit „OM Shanti“ und „Hare Krishna“ singen. Anschließend haben diese Menschen sich auf den Kopf gestellt oder alternativ ihre Gliedmaßen irgendwie um den Körper herum verknotet. Das fand ich so abgefahren, dass ich das in meinem Kopf gleich in die Schublade mit der Aufschrift „geht gar nicht“ gesteckt habe, die Schublade abgeschlossen und den Schlüssel dazu weggeworfen habe.
Da die eigene Wahrnehmung durchaus beeinflussbar ist durch den Willen, etwas wahrzunehmen oder auch nicht, habe ich die nächsten 20 Jahre einen Bogen um Yoga gemacht. Das war aber auch nicht besonders schwer, denn Yoga war längst nicht so omnipräsent wie heute und fristete in dieser Zeit noch ein exotisches Schattendasein, was allenfalls belächelt oder als abgehobener Spiritualitätskram abgetan wurde.
Und heute?
Kann man in größeren Städten an jeder Ecke ein Yogastudio besuchen. Gibt es spezielle Yogazeitschriften. Ist Yoga in den Fokus wissenschaftlicher Studien geraten. Raten Ärzte ihren Patienten Yoga zu praktizieren. Will die Werbung uns weismachen, dass man unbedingt spezielle Yogaklamotten braucht um Yoga praktizieren zu können. Gibt es hunderte verschiedene Yogalehrerausbildungen. Bieten Unternehmen ihren Mitarbeitern Yogakurse an. Überbieten sich Nutzer von Social Media Plattformen wie Instagram & Co. mit Fotos und Videos von allen möglichen und unmöglichen Yogaposen. Entstehen immer neue Yoga-Formen die eigentlich keine sind, die weitere Yogis und Yoginis anlocken sollen (Bieryoga…). Statt einer Auszeit oder einem Erholungsurlaub gönnt man sich heute einen Retreat. Und die Menschen die Yoga machen sind auch gar nicht mehr so komisch wie früher.
Was also ist da in der Zwischenzeit passiert, in diesen 20 Jahren, was Yoga so populär gemacht hat? Ich möchte dazu meine Gedanken teilen…
Bevor ich Yogalehrerin wurde habe ich lange in der Informationstechnologie-Branche gearbeitet. Zum Zeitpunkt meines ersten Eindrucks von Yoga gab es diese Branche noch nicht einmal: nur so einen Vorläufer, den man „elektronische Datenverarbeitung“ nannte. Ab den 90er Jahren entwickelte sich diese Informationstechnologie-Branche jedoch rasant und brachte Innovationen hervor, die nur wenige Jahre zuvor als Science-Fiction galten. Das Internet entstand und brach die letzten Deiche auf dem Weg zur globalisierten Welt. Neue, schnelle digitale Übertragungskanäle ermöglichen Kommunikation mit der ganzen Welt in Echtzeit. Mobile Endgeräte, die praktisch jedem zur Verfügung stehen, bilden die Dauereintrittskarte in die digitale Welt, die niemals eine Pause einlegt. Wir haben Zugang zu unvorstellbaren Mengen an Informationen: es gibt nahezu nichts, was man nicht SOFORT googlen könnte; nichts, was man nicht SOFORT bestellen könnte; nichts, was man nicht SOFORT posten und mit der ganzen Welt teilen könnte. Bereitwillig nutzen wir diese zweifellos nützlichen Features, die unser Leben an ganz vielen Stellen erleichtern und sogar bereichern. Durch diese unglaublichen Innovationen sind uns Möglichkeiten und Optionen offengelegt worden, die wir vorher gar nicht hatten. Das ist fantastisch, und aus manchem Blickwinkel heraus betrachtet sicher schlaraffenlandähnlich!
Wären da nur nicht diese Grenzen, die in uns selbst begründet liegen. Während Computer heute immer mehr Informationen verarbeiten können, kann unser Gehirn das leider nicht. Ein bisschen Tuning ist zwar drin, aber es ist keine Maschine sondern eben unser Gehirn. Also müssen wir unter den zur Verfügung stehenden Informationen immer mehr filtern, was für uns nun wirklich relevant ist. Das ist schon für unsere Sinnesorgane anstrengend, also sozusagen die Eingangskanäle der Informationen. Manchmal schaffen die das gar nicht und lassen einfach alles mögliche in unser Gehirn durch. Dort muss dann nochmal nachgefiltert und kategorisiert werden, was wichtig und relevant ist für uns. Weil aber die schiere Menge an Informationen so groß ist, guckt sich unser Gehirn nicht jeden Informationsfitzel genau und von allen Seiten an, sondern legt eine – notwendige – Oberflächlichkeit an den Tag, um den Kategorisierungsvorgang zu beschleunigen. Unser Gehirn entwickelt sich zum Hochleistungssportler, der sich keine Pausen mehr gönnt und immer weiter rennt: immer mehr Informationen prasseln auf uns ein und wollen immer schneller und vor allem permanent verarbeitet werden. Das ist ziemlich anstrengend und macht uns müde: aber dieses „müde“ fühlt sich anders an als nach körperlicher Arbeit und Anstrengung; wir sind „müde im Kopf“: fühlen uns nicht mehr aufnahmefähig, lustlos und irgendwie auch „leer“.
„Oberflächlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang übrigens auch, dass wir uns die Informationen nicht mehr merken (können). Das hängt auch damit zusammen, dass wegen der nur oberflächlichen Beschäftigung mit einer Information keine Zeit mehr bleibt, um eine Emotion dazu zu entwickeln. Informationen, die mit Emotionen gespeichert werden, bleiben aber länger „haften“: wir können uns besser an sie erinnern. Dafür haben wir aber keine Zeit, denn es warten ja schon die nächsten Informationen auf Bearbeitung durch unser Gehirn.
Darunter leidet auch unsere Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Es ist ein Teufelskreis: weil wir keine Zeit mehr haben, uns mit Informationen genauer zu beschäftigen und uns auf EINE Sache zu fokussieren, nimmt unsere Konzentrationsfähigkeit ab; ja wir verlernen es regelrecht, unseren Geist über einen längeren Zeitraum auf nur eine Sache zu richten. Im Beruf, in der Familie und in allen möglichen anderen Lebensbereichen scheint die Fähigkeit zur Konzentration aber auch keine vorrangig geforderte Qualität mehr zu sein: Multitaskingfähigkeiten werden stattdessen gefordert. Dabei ist schon seit einigen Jahren durch die Hirnforschung bewiesen, dass unser Gehirn das gar nicht kann! Unser Gehirn ist kein Parallelprozessor, sondern es verarbeitet Informationen immer nacheinander. Es scheint, als ob wir aber versuchen, die Abstände zwischen diesem Nacheinander immer kürzer werden zu lassen, damit es wenigstens annähernd so aussieht als ob wir multitaskingfähig wären. Schließlich ist es – leider – noch immer so, dass „Multitaskingfähigkeit“ mit „hoher Leistungsfähigkeit“ gleichgesetzt wird: je mehr Browser-Tabs in unserem Gehirn gleichzeitig geöffnet sind desto besser also.
Damit unser Gehirn diesen nahezu dauerhaften Zustand der effizienten Informationskategorisierung in hohem Tempo aufrecht erhalten kann, braucht es so etwas wie „Drogen“: die stellt unser Körper praktischerweise sogar selber her in Form von Hormonen bzw. Neurotransmittern. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol (um nur die wichtigsten, auch als „Stresshormone“ bekannten zu nennen) können unsere Leistungsfähigkeit über kürzere Zeiträume erstaunlich erhöhen und uns auf den Punkt zur Konzentration und Aktion bringen. Evolutionsbiologisch ist das ein sehr cleveres Konzept unseres Körpers, waren wir dadurch doch in der Lage, uns vor gefährlichen Tieren zu retten und unser Überleben zu sichern.
Heute jedoch missbrauchen wir dieses clevere Konzept, weil es uns nicht mehr genügt, unsere Leistungsfähigkeit nur über kürzere Zeiträume zu steigern; wir verlangen unserem Gehirn ja permanent eine hohe Leistungsfähigkeit ab. Unser Körper produziert deswegen mehr „Drogen“, aber das hat leider einige Nachteile und führt wiederum in einen weiteren Teufelskreis: wir werden abhängig, „Adrenalinjunkies“ sozusagen, die immer wieder neue Kicks benötigen. Die körpereigenen Drogen erzeugen in uns das Gefühl von „Stress“: das macht sich zum Beispiel bemerkbar durch höheren Blutdruck, beschleunigten Puls, vergrößerte Pupillen, erhöhte Muskelspannung (die zu Verspannungen und auch Kopfschmerzen führt), reduzierte Verdauungstätigkeit, flachere und schnellere Atmung. Wenn dieser Zustand nun über einen längeren Zeitraum andauert und insbesondere der Cortisolspiegel im Blut konstant hoch bleibt, weil das Hormon gar nicht mehr abgebaut werden kann, schadet das unserem Körper massiv: das Risiko von Diabetes, koronaren Herzerkrankungen und wahrscheinlich sogar Demenzerkrankungen (die Forschung ist hier noch ganz jung) steigt dramatisch an.
Nun ist es ja nichts Neues, dass Stress uns krank macht; das war immer schon so. Aber die Art und Weise, wie es überhaupt zu diesem Stress kommt und welche Umstände das konkret begünstigen sind eben doch vergleichsweise neu: nein, unsere Großeltern und früheren Vorfahren hatten das in dieser Form nicht. Kriege, Hungersnöte und 12stündige Schichten im Bergbau haben sicher und ohne Zweifel ebenfalls Stress verursacht, aber auf eine andere, von der Ursache her viel körperlichere Art und Weise. Dass unsere Informationsfilteranlagen und unser Gehirn durch so viele Informationen auf einmal, überall und zu jederzeit, die alle kategorisiert werden wollen, schlicht überbelastet werden ist relativ neu. Ohne die vielzähligen, unglaublichen Fortschritte in der Informationstechnologie in den letzten 20 bis 30 Jahren würde es diese „neue“ Art von Stress so nicht geben.
Auf diesem Fortschritt gründen noch eine Menge weiterer Entwicklungen, die ihrerseits wiederum eigene Stress-Teufelskreise erzeugen. Zum Beispiel die Sache mit den sozialen Medien: weil es MÖGLICH ist diese zu nutzen entsteht der Druck, dies auch wirklich TUN zu müssen, denn es entstehen digitale Parallelwelten, aus denen man sonst ausgeschlossen ist. Menschen sind aber auf soziale Bindungen angewiesen, wir brauchen sie wie die Luft zu atmen: also machen wir da mit und üben uns in möglichst positiver Selbstdarstellung.
Weil es MÖGLICH ist, mit ganz vielen Menschen zu interagieren, viele „Freunde“ und „Follower“ zu haben, sich heute hier und morgen dort zu verabreden, mit Freunden zu skypen die gerade am anderen Ende der Welt sind, sich mit allen möglichen Menschen zu „vernetzen“ die wir – wenn überhaupt – nur einmal im Leben überhaupt gesehen und kennengelernt haben, meinen wir, dass wir das auch tun müssen, um unsere sozialen Bindungen zu stärken und uns irgendwie „zugehörig“ zu fühlen. Wir können aber gar nicht mit so vielen Menschen so viel Zeit verbringen, wie es nötig wäre, um wirklich eine tiefe soziale Bindung einzugehen. Also müssen wir zwangsläufig oberflächlich bleiben: unsere Beziehungen werden damit viel schneller austauschbar und geben uns weniger Halt, als das bei tiefen und nachhaltigen Beziehungen der Fall ist.
Weil es MÖGLICH ist, in Echtzeit miteinander zu kommunizieren, meinen wir auch, dies unbedingt TUN zu müssen: wenn jemand unsere Whatsapp-Nachricht nicht innerhalb weniger Minuten beantwortet werden wir bereits ungehalten – und andersherum erzeugt eine unbeantwortete Nachricht auf unserem Smartphone ein weiteres ToDo auf unserer nie endenden ToDo-Liste, das unseren Stresslevel wieder befeuert.
Weil es MÖGLICH ist, alles was wir an Konsumartikeln begehren heute zu bestellen und morgen geliefert zu bekommen, MEINEN wir, dass grundsätzlich alles am besten jetzt und hier und sofort erledigt werden oder verfügbar sein muss. Wenn sich abzeichnet, dass dies einmal nicht oder nur schwer möglich ist, bereitet uns das Stress, und wir erhöhen unsere Anstrengungen einmal mehr, um dem doch noch entsprechen zu können. Und natürlich erwarten wir dies gleichermaßen auch von anderen und setzen diese damit unter Druck: soziale Bindungen – welcher Art auch immer – können auch Stress leiten, sowie Wasser den Strom leitet.
Dass ausgerechnet Yoga Dir helfen kann, diesen Stressfallen zu entkommen ahnst Du wahrscheinlich schon. Im nächsten Blogbeitrag erkläre ich Dir, WIE GENAU das aber funktioniert - stay tuned!